Die Zukunft der Schule ist die get(h)eilte Vergangenheit – Teil 1 – Die Polarität
Hier und heute möchte ich meine Gedanken von gestern Abend veröffentlichen – als ich in der Tagesschau die Berichterstattung zum Thema Kitas & Schulen in der Coronakrise gehört habe. Normalerweise versuche ich mir die Tagesschau nicht anzusehen. Es schmerzt mich meist sehr in meinem Herzen. So auch gestern Abend. Ich spüre Unruhe in mir. Mein Bauch verkrampft sich. Die Hauptfragen um die es geht: “Wann können wir endlich wieder öffnen?” – “Wann ist die Phase der Notfallkonzepte endlich vorbei?” WANN IST VERDAMMT NOCHMAL ENDLICH WIEDER ALLES WIE VORHER?
Die Zukunft ist die geteilte Vergangenheit
Dieses Zitat hat mir mein geschätzter Freund Tobi vor zwei Tagen auf WhatsApp geschickt. Meine Reaktion: „Dabei verknoten sich meine Synapsen im Hirn … Check ich nicht … Hä?“ So ähnlich fühlt sich mein Körper an wenn ich die Nachrichten höre. Es schmerzt mich den Schmerz zu spüren. Es schmerzt mich den Schmerz der Kinder zu spüren. Es schmerzt mich die Überlastung der Eltern zu spüren. Es schmerzt mich, wie wir versuchen die Normalität wieder herzustellen. Prof. Dr. Gerald Hüther schreibt in einem Interview für das Magazin “Mit Kindern wachsen”:
Die momentane Situation zeigt uns, wie sehr die Schulen dafür benutzt werden, Kinder und Jugendliche tagsüber sicher aufzubewahren, solange die Eltern arbeiten.
Prof. Dr. Gerald Hüther
Ich finde er hat Recht. Und auch ich kann mich dafür an meiner eigenen Nase packen.

Während meinem Sohn zu Hause langweilig ist beschäftigen sich die Erzieher*innen meines Sohnes im Moment mit Notfallgruppen und der Implementierung von Hygienekonzepten anstatt mit den Kindern. Ca zwei mal die Woche kommt ein Newsletter mit Aufgaben und Spielideen. Auf dem Hof des Kindergartens ist mit rotem Absperrband der Garten in zwei Zonen eingeteilt. Dort wo sonst die Kinder fröhlich mit dem Dreirad im Kreis fuhren, ist jetzt eine Grenze eingezogen. Sogar der Kletterturm ist geteilt, sodass ihn jetzt wohl keine der beiden Gruppen benutzen kann. Ich stehe nur dort und schüttle den Kopf.
Eine Hand voll Kinder sind in den Notgruppen – nächste Woche werden es mehr. Die Leitung schreibt mir, sie haben gerade alle Hände voll damit zu tun sich das Hygienekonzept zu überlegen und die Notgruppen umzusetzen. Ich schätze ihren Einsatz sehr. Es ist für alle nicht leicht. Die Notbetreuung ist wichtig. Den Piloten zur virtuellen Vorschule starten wir erst mal in Elterninitiative – in der Hoffnung, dass er dann später gemeinsam mit den Erzieher*innen fortgeführt werden kann.
Doch wenn ich an die Tagesschau denke und an die Antworten der Politik, dann schmerzt es mich einfach. Es schmerzt mich, weil ich das Gefühl habe, dass wir dieser Krise, die uns alle gerade so sehr fordert, auf dieser Ebene überwiegend mit unseren alten Erfahrungen begegnen. Mit Vorschriften, mit ASLDKjfasoirlkjylkjljykjl … Argl … ich merke, ich mag gar nicht mehr alles davon aufschreiben. Es schmerzt einfach.
<Sarkasmus> Aber gut – ist ja nur vorübergehend … nach den Sommerferien ist die Phase dann ja bestimmt vorbei 🙂 </Sarkasmus>
Die Zukunft ist die geheilte Vergangenheit
Tobi antwortet: „Der Dank für den Knoten geht an die Autokorrektur“ Ich: “LOL Jetzt funktionieren die Synapsen wieder”. Mein Gehirn entspannt sich. Ich frage mich:
Wie schaut unser Schul- und Bildungswesen in der Zukunft aus, wenn wir akzeptieren, dass Corona nicht nur eine “Phase” ist die nach den Sommerferien vorbei ist?
Der Mensch ist nicht gemacht für Isolation. Er ist nicht gemacht für Abstand. Wir haben lang genug in einer Zeit der künstlichen Abspaltung und Silobildung gelebt. Es ist Zeit, dass wir auch anfangen darüber nachzudenken, welche Alternativen es zu unseren bekannten Arbeits-, Lern- und Lebensmodellen gibt. Wie schaut unsere Antwort auf Corona aus, wenn wir uns für einen Moment erlauben, die künstliche Abspaltung der letzten Jahrzehnten hat hinter uns zu lassen. Wenn wir akzeptieren, dass wir jetzt nach vorne schauen dürfen anstatt den alten Status Quo wieder herzustellen? Wenn wir akzeptieren, dass es um keine vorübergehenden Regelungen mehr geht – um keine Phase – nein, vielmehr um eine neue Ära? Um eine neue Form des Arbeitens, des Lernens, des Lebens?
Versteht mich nicht falsch. Es geht mir nicht darum zu sagen, die Abstandsregelungen und Hygienevorschriften seien sinnlos. Es geht mir nur darum zu sagen, dass uns vielleicht noch sinnvollere und zukunftsträchtigere Lösungen einfallen könnten als die aktuell gängigen.
Wenn ich anfange zu träumen, dann sehe ich eine Zukunft in der wir unsere Kinder nicht mehr in überfüllte Kindergärten und riesige Schulklassen mit Frontalunterricht abschieben. Ich sehe ein Leben das wieder bescheidener wird. Das Zentrum verschiebt sich. Ich sehe, dass die Familie wieder zum Zentrum wird – zum Zentrum von Arbeit und Bildung. Ich sehe Kinder, die in kleinen Lerngruppen gemeinsam lernen. Sie sind vielleicht einen Tag bei uns, dann bei den anderen Eltern – dann vielleicht auch mal einen Tag in der Schule – oder bei anderen Menschen in der Nachbarschaft von denen sie lernen können. Und gleichzeitig leben sie in Verbindung mit all jenen von denen sie etwas lernen können oder für die sie wirksam werden wollen. Und zwar vernetzt mit anderen und unterstützt durch die Technik. Ich sehe eine starke Gemeinschaft – sehe sie dort sprießen und wachsen – herumtollen und Spaß haben … In ihrer „Sippe“.
Ja – das ist es was ich sehe. Und ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist – und zwar auch jetzt, in Zeiten von Corona und unter Einhaltung der Bestimmungen. In seinem Interview berichtet Prof. Dr. Gerald Hüther von einem Zukunftsbild der Schule als eine Art Bildungscampus, der den ganzen Stadtteil umfasst. Mit vielen Bildungsmöglichkeiten, wo Erwachsene den Heranwachsenden mit Freude oder sogar mit Leidenschaft zeigen, was sie machen oder wie es geht. Und zwar auf der Basis von Kokreativität, der Fähigkeit gemeinsam mit anderen nach Lösungen zu suchen. Und selbiges sollten wir auch hier tun.
Die Zukunft ist die get(h)eilte Vergangenheit
Wir alle haben die Wahl wie wir die Zukunft gestalten wollen. Wir haben die Wahl ob wir sie nach alten Mustern und unseren geteilten Erinnerungen und Erfahrungen der Vergangenheit gestalten – oder ob wir eine Zukunft schaffen wollen, die die Wunden der Vergangenheit heilt.
Ich denke es ist an der Zeit, dass wir uns von alten Mustern lösen – und unsere eigenen Erwartungen und Vorstellungen beiseite legen – und gemeinsam nach Lösungen suchen, die das Kind in den Mittelpunkt stellen – und nicht unser eigenes egoistisches Bedürfnis, in Ruhe arbeiten zu können während die Kinder außer Haus sind.
Denn wenn ich meinen Sohn frage, dann sagt er: “Mama, können wir nicht den Bürgermeister anrufen und ihm sagen: Es ist ganz einfach – Jedes Kind soll sich einfach ein oder zwei Freunde aussuchen mit denen es bei Corona spielen darf”. Es geht ihm also nicht primär darum, wieder in den Kindergarten zu dürfen, sondern schlicht und einfach um das Bedürfnis nach sozialem Kontakt zu seinen Freunden. Und die werden durch die Notgruppen Regelung aktuell sogar noch auseinander gerissen.
Und hier noch ein kleiner Ausblick – in meinem Teil 2 dieser Serie werde ich ein Konflikt Gespräch veröffentlichen das entstanden ist, als ich diese beiden Standpunkte in ein Gespräch miteinander gebracht habe … und zwar gemeinsam mit den Einsichten für das weitere Vorgehen.
Kommentiert am besten den Artikel, damit ihr den Teil 2 nicht verpasst. Ich werde ihn hier in den Kommentaren verlinken 🙂
In der Zwischenzeit möchte ich euch noch auf einen Artikel meiner geschätzten Freundin Stefanie Klicks aufmerksam machen. Sie beschreibt darin die Vorgehensweise die benötigt wird, um die aktuellen Probleme mit dem Denken der Zukunft anstatt mit dem Denken der Vergangenheit anzugehen. Das Ziel: Dem System helfen, sich selbst zu helfen.
Und noch kurz zur Autorin …
Barbara Engel ist dafür bekannt, Dinge maßgeblich in Frage zu stellen und ihnen auf den Grund zu gehen bis sie das dahinterliegende Bedürfnis sichtbar gemacht hat. Denn nur so entstehen keine Kompromisse sondern zukunftsträchtige Lösungen die von allen mitgetragen werden – und zwar freiwillig!
Artikel ursprünglich erschienen am 1. Mai 2020 auf LinkedIn.